KLAVIERKONZERT PHILHARMONIE Endlich wieder frische Kraftnahrung |
Grigorij Sokolow − ein Zeitbildhauer. Der russische Klaviervirtuose Grigorij Sokolow erfreute und verzauberte in der ausverkauften Berliner Philharmonie sein Publikum. Dieser Mann ist Kult und seine Konzerte, im vergrübelten Halbdunkel dargebracht, sind Liturgien geworden, ach was: Walfahrten! Ausgehungert nach Musik müssen all die vielen Menschen gewesen sein, die am Mittwoch in die Berliner Philharmonie kamen. Gut fünfundzwanzig Meter lang war die Schlange derer, die nach Restkarten anstanden. Im großen Saal konnte man nicht einmal mehr auf dem Chorpodium einen freien Platz finden. Den Ansturm des Publikums auf den jährlichen Klavierabend des russischen Pianisten Grigorij Liepmannowitsch Sokolow hatte die Konzertdirektion Adler über Monate hinweg moderieren müssen. Noch vor zehn Jahren spielte dieser Mann, mittlerweile dreiundsechzig Jahre alt, im mäßig gefüllten Kammermusiksaal nebenan. Inzwischen ist das Bedürfnis, ihn zu hören, so groß wie vor vierzig Jahren bei den Konzerten von Wladimir Horowitz. Inmitten der Überfütterung mit „Klassik zum Frühstück“, Youtube, iPod und Türmen von CDs , deren Inhalt im Konzerten verdoppelt wird, zeigt sich an diesem Hunger doch eine geistige Mangelernährung. Die Musik aus der digitalen Vorratshaltung stärkt uns nicht in dem Maße wie die Auftritte dieses Pianisten, der keine CDs mehr aufnimmt und nur im unwiederholbaren Moment Gegenwart wird. All die Rituale des Konzertbetriebs, das Applaudieren bei jedem Betreten der Bühne, die vielen Zugaben − Mittwoch wurden es sechs − , haben ja sonst etwas Mechanisches, wenn nicht gar Lächerliches. Bei Sokolow gewinnen sie ihren Sinn zurück: Das Publikum will den Künstler in der Anwesenheit halten − wie früher, als man mitunter Jahre warten musste, bis ein reisender Virtuose wiederkam und man erneut Musik hören konnte, die man selber nicht zu spielen vermochte. Sokolow ist jetzt „Kult“ Dass Sokolow heute „Kult“ ist, trifft über das Redensartliche hinaus direkt ins Wesen der Dinge: Seine Konzerte, stets in vergrübelt-halbdunklem Saal, sind Liturgien geworden, in denen es in gesteigertem Maße um intensive Anwesenheit von Musik geht. Sokolows Lebens- und Arbeitsweise bewegt sich im Gegenstrom zur Säkularisierung des quasi religiösen Kunst-Erlebens, wie wir es aus dem neunzehnten Jahrhundert überliefert bekommen haben. Sie stellt sich der Ernüchterung, dem technisch-pragmatischen Verfügen über Musik, mit ganzer Kraft entgegen. Diese Kraft aber wirkt vor allem durch die einzigartige Beherrschung des Instruments. Sokolow spielte zunächst die Vier Impromptus op. 90 und die Drei Klavierstücke D 946 von Franz Schubert, beliebte Musik, mit der manch bürgerliche Seele ihr Sofazimmer möbliert hat. Aber Sokolow machte hier so viel Wut, Kraft, Sehnsucht nach Ausbruch, nach öffentlicher Wahrnehmung hörbar, dass es für all jene, die an den maßvoll gerundeten Schubert Alfred Brendels oder die klingenden Laubsägearbeiten von András Schiff gewöhnt sind, schon verstörend sein musste. Die große Melodie im Ges-Dur-Impromptu hatte Sokolow mit voller Stimme ausgesungen, im Mittelteil zum Schrei gesteigert. Das C-Dur-Klavierstück am Ende sprang mit bocksbeiniger Haarigkeit in den Saal wie ein ungemütliches Scherzo von Ludwig van Beethoven. Nach einer Stunde Schubert dann auch noch eine knappe Stunde lang Beethovens „Großer Sonate für das Hammerklavier“ op. 106 standzuhalten, war nicht nur für den Pianisten eine enorme Anstrengung. Aber was man da zu hören bekam, übertraf sein Schubert-Spiel noch bei Weitem. Mit ganz klarer formaler Übersicht zeigte Sokolow, wie sich im pompösen Kopfsatz barocke Konzertform und klassische Sonatenform überlagern, unternahm im Adagio einen einundzwanzigminütigen Spaziergang durchs Weltall, der niemals hätte enden müssen und stürzte sich mit abenteuerlicher Souveränität in die bizarren Rücksichtslosigkeiten der Schlussfuge. Durch Sokolows tiefe Liebe zum Klavier und dessen klanglichen Möglichkeiten hat sich hier der ganze Irrwitz dieser Musik mit Sinn erfüllt.
|